Der Psychologe Graham Wallas wurde 1926 für seine Einteilung des kreativen Prozesses in vier grundlegende Phasen berühmt: Vorbereitung, Inkubation, Erleuchtung und Überprüfung. Diese Phasen entsprechen den einzelnen Schritten, die jeder Student für Gestaltung an der Hochschule lernt, und dem, was die meisten Designer und Werbeagenturen durchlaufen, wenn sie vor einer neuen Herausforderung stehen. Aber wie genau funktionieren sie?
Der Psychologe Graham Wallas wurde 1926 für seine Einteilung des kreativen Prozesses in vier grundlegende Phasen berühmt: Vorbereitung, Inkubation, Erleuchtung und Überprüfung. Diese Phasen entsprechen den einzelnen Schritten, die jeder Student für Gestaltung an der Hochschule lernt, und dem, was die meisten Designer und Werbeagenturen durchlaufen, wenn sie vor einer neuen Herausforderung stehen. Aber wie genau funktionieren sie?
Design: Eine einzigartige Art der Problemlösung
Als allgemeine Regel gilt: Kreativität wird definiert durch die Fähigkeit, Ideen zu schaffen, die sowohl innovativ als auch nützlich sind. Das Faszinierende an der Kreativität ist jedoch, dass sie viele Formen annimmt und sich an die Art des zu lösenden Problems anpasst – ob es sich nun um wissenschaftliche Forschung, künstlerische Experimente oder auch um Probleme des täglichen Lebens handelt. Nehmen wir das Beispiel des gestalterischen Denkens.
Gestaltung unterscheidet sich in ihrem Ablauf grundlegend von künstlerischen und wissenschaftlichen Ansätzen. Einerseits muss Gestaltung auf eine Reihe von Zwängen reagieren, die der künstlerische Ansatz nicht hat. Andererseits unterscheidet sie sich von der wissenschaftlichen Herangehensweise, weil es sich um einen „offenen“ Prozess handelt: Auf die Fragestellung nach einer visuellen Identität gibt es so viele Antworten wie Individuen, die sich an ein solches Problem wagen.
Ob Druck, Logo-Design oder Architektur : Kreativität ist überall
@printmakingmoneygang, Apple-Logo, Sumida Hokusai, Museum Tokyo, von Kazuyo Sejima
Stellen wir uns einen Grafikdesigner vor, der den Auftrag erhalten hat, eine neue grafische Identität für ein Unternehmen zu schaffen. Die kognitive Forschung hat die Bedeutung der Vorbereitungs- bzw. Recherche-Phase für den kreativen Entwurf gezeigt.1 Zusammenfassend lässt sich sagen: Je mehr Recherche zu einem Problem betrieben wird, desto wahrscheinlicher ist es, dass eine kreative Antwort auf dieses Problem gefunden wird. Unser Grafikdesigner wird also mit der Vorbereitungsphase beginnen: Er wird ein klares Bild der Bedürfnisse seines Kunden zeichnen und so viele Daten wie möglich über die Unternehmensgeschichte, ähnliche Marken und visuelle Elemente C&M–20-08 sammeln, um sein Gehirn mit Informationen zu füttern.
VORBEREITUNG Bewusste |
INKUBATION Bewusste und unbewusste Problembewältigung |
FUNKE |
ERLEUCHTUNG Der „Aha“-Moment |
ÜBERPRÜFUNG |
Sobald das Gehirn voller Informationen ist, kommen die Inkubations- und Erleuchtungsphasen, also der Moment, in dem die einzelnen Elemente aufeinandertreffen und neue Ideen zum Leben erweckt werden – also der Moment, in dem Kreativität wirklich stattfindet. Danach folgt die Überprüfungsphase, in der die Ideen bewusst bewertet werden, um sicherzustellen, dass sie tatsächlich funktionieren.
Unser Grafikdesigner spielt in der Vorbereitungs- und Überprüfungsphase eine aktive und steuernde Rolle, weil diese in einer bewussten Art und Weise durchgeführt werden. Es ist jedoch schwer zu verstehen, wie die Inkubationsphase in die Erleuchtungsphase übergeht, wie es also zum eigentlichen „Aha“-Moment kommt. Die Einzelheiten dieses intuitiven Gedankenblitzes sind schwer verständlich. Die neuesten neurowissenschaftlichen Forschungsergebnisse lassen uns dies jedoch besser verstehen.
Auf unsere Gehirnwindungen kommt es an…
Die Neurowissenschaften zeigen, dass unsere kreative Fähigkeit in hohem Maße von einem Teil unseres Gehirns abhängt, dem so genannten Default Network (Standardnetzwerk). Es handelt sich hierbei um mehrere Bereiche, die in verschiedenen Teilen unseres Gehirns verteilt sind und die im ruhigen Wachzustand oder beim Tagträumen aktiv sind. Deshalb ist es wichtig, unserem Geist genügend Zeit und Ruhe zu geben, um in diesen Zustand zu gelangen und sich auf den kreativen Prozess einzulassen. Doch im Gegensatz zur naheliegenden Vorstellung ist das Gehirn in diesem Zustand des Tagträumens alles andere als untätig.
Tatsächlich zeigt eine neuere Studie2, dass der kreative Prozess auch das Steuernetzwerk einbezieht, einen weiteren Bereich des Gehirns, der mit kognitiver Steuerung und Bewertung assoziiert wird. Gewöhnlich funktionieren diese beiden Teile des Gehirns getrennt, aber beim kreativen Denken sind sie auf eine ziemlich einzigartige Weise miteinander verbunden. Wenn Ideen entstehen, werden sie ständig bewertet und durch die Verbindungen zwischen dem Standardnetzwerk und dem Steuernetzwerk neu durchdacht.
Submits ideas for evaluation
DEFAULT NETWORK Idea Generation CONTROL NETWORK Idea Evaluation Submits ideas for improvement |
Einreichen von Ideen zur Bewertung
STANDARDNETZWERK Ideengenerierung STEUERNETZWERK Bewertung der Idee Einreichen von Verbesserungsvorschlägen |
Die Studie zeigte auch einen direkten Zusammenhang zwischen der Intensität dieser Verbindungen und der Fähigkeit, kreativ zu sein. Dieser Zusammenhang war so stark, dass es durch bildgebende Untersuchungen des Hirns möglich war, die kreative Fähigkeit einer Versuchsperson korrekt vorherzusagen.
Die gute Nachricht ist, dass die Anpassungsfähigkeit unseres Gehirns uns helfen kann, diese Verbindungen herzustellen und zu stärken. Die Neurowissenschaftler haben einen einfachen Test zur Messung der Kreativität verwendet, das sogenannte divergente Denken. Dazu werden die Versuchspersonen gebeten, ein Objekt, z. B. einen Regenschirm, zu betrachten und sich alternative Funktionen für dieses Objekt vorzustellen. Die Antworten können dann von leicht abweichend (z. B. als Sonnenschutz) bis stark abweichend (z. B. als Segel auf einem Skateboard) reichen. In einer von Professor Andreas Fink veröffentlichten Studie wurden 53 Versuchspersonen gebeten, 30 Minuten pro Tag über zwei Wochen divergentes Denken zu üben. Das Ergebnis zeigte, dass die Hirnareale der im kreativen Denken „trainierten“ Versuchspersonen während des Tests effektiver arbeiteten als die der „untrainierten“.
Der Gedanke ist, dass wir umso kreativer werden, je mehr wir unsere Kreativität einsetzen. Dies kann mit sehr einfachen Aufgaben beginnen. Im Jahr 2015 veröffentlichte eine Personalberatung eine Studie, die zeigte, dass Personen, die den Standardbrowser ihres Computers (Safari oder Internet Explorer) benutzten, mit geringerer Wahrscheinlichkeit ihren Arbeitsplatz behielten als Personen, die einen neuen Webbrowser wie Firefox oder Chrome installiert hatten.3 Dabei kommt es nicht auf die Wahl des Browsers an, sondern darauf, sich die Zeit zu nehmen, die Optionen in Frage zu stellen, also einen anderen als den vorgegebenen Weg einzuschlagen.
Ein weiterer Trick des Gehirns: Der Hippocampus, ein Teil des Standardnetzwerks, ist der Ort, an dem wir unsere Erinnerungen rekonstruieren und uns die Zukunft vorstellen. Er wird aktiv, wenn wir uns in einem kreativen Prozess befinden. Weitere Forschungen zeigen, dass der die Kreativität fördernde Bereich des Gehirns auch das Gedächtnis unterstützt, und dass die möglichst detaillierte Erinnerung an ein Ereignis oder an einen Ort die Anzahl der bei einer kreativen Aufgabe entstehenden Ideen vorübergehend erhöhen kann.
… und auf unsere Umwelt auch
Kehren wir zu unserem Grafikdesigner zurück. Er weiß jetzt, dass er bestimmte Dinge tun kann, um das ihm vorgegebene Projekt so kreativ wie möglich anzupacken: ernsthaft die Vorgaben analysieren, sich ein wenig Zeit für neue Einfälle nehmen und diese dann konzentriert zu bewerten. Er muss seine Kreativität täglich auch in anderen Bereichen anwenden, aber was ist mit seiner Umgebung? Auf die Frage nach dem kreativen Prozess erklärt die Neurowissenschaftlerin Anna Abraham: „Es ist offensichtlich so, dass vieles von dem, was eine kreative im Gegensatz zu einer nicht-kreativen Stimmung auslöst, situationsbedingt ist.“
Verschiedene Studien haben gezeigt, dass das Arbeitsumfeld für die Entscheidung, ob wir kreativ arbeiten oder nicht, ausschlaggebend ist. Obwohl die Vorstellung des einsamen Genies extrem weit verbreitet ist, hat sich gezeigt, dass die Auseinandersetzung mit den Ideen anderer an sich schon eine gute Triebfeder für Kreativität ist. (Damit erhält das Brainstorming endlich seine wissenschaftliche Berechtigung.)
Wie beim Hin und Her zwischen unseren Traum- und Analysezuständen müssen wir unsere Momente der Reflexion mit den Momenten, in denen wir so viele Informationen wie möglich sammeln, in Einklang bringen, um kreativ zu sein.
Ein fachübergreifender Ansatz könnte ebenfalls eine Schlüsselrolle spielen. Untersuchungen zeigen nämlich, dass es für die Gesamtkreativität eines Teams tendenziell förderlich ist, wenn Menschen aus verschiedenen Gebieten zusammenkommen. Im Idealfall sollte sich unser Grafiker daher einen Arbeitsplatz suchen, an dem er sein Fachwissen mit Experten aus verschiedenen Gebieten teilen kann. Wie aber sieht es mit der Größe des Teams aus?
Wissenschaftler meinen, die Größe eines Teams könnte ein Schlüsselfaktor sein. Eine kürzlich durchgeführte wissenschaftliche Studie4 hat 65 Millionen Artikel, Patente und Softwareprodukte aus dem Zeitraum 1954-2014 analysiert. Die Untersuchung hat gezeigt, dass in diesem Zeitraum kleine Teams die Wissenschaft und Technologie eher mit neuen Ideen und Chancen disruptiv veränderten, während große, spezialisiertere Teams eher bestehende Ideen weiterentwickelten. Ein kleines interdisziplinäres Team könnte also die Kreativität optimal fördern.
Obwohl die Wissenschaft zur Förderung der Kreativität gerade erst begonnen hat, sollten wir uns unbedingt klarmachen, dass Kreativität nicht so sehr ein Talent ist, sondern vielmehr eine Fähigkeit, die mit geeigneten Werkzeugen, der richtigen Umgebung sowie dem notwendigen Willen ausgeübt und ausgebaut werden kann. Jede Kleinigkeit kann zu einer Übung werden, ganz gleich ob man eine neue Verwendung für einen Regenschirm ersinnt, ein Musikinstrument zu spielen beginnt oder mit einem Karton neue Dinge baut. Dazu gehört auch, anderen zuzuhören und seine eigene Neugierde zu fördern – aber am Ende liegt es immer an uns. Denn wie der ungarische Autor Arthur Koestler schrieb: „Kreative Aktivität ist eine Art Lernprozess, bei dem sich Lehrer und Schüler in derselben Person befinden.“
1 Atman CJ, Chimka JR, Bursic KM, Nachtmann HL. A comparison of freshman and senior engineering design processes
2 Roger E. Beaty, PhD, The Creative Brain
3 https://www.theatlantic.com/business/archive/2015/03/people-who-use-firefox-or-chrome-are-better-employees/387781/
4 Large teams develop and small teams disrupt science and technology