Was ist eine gute Idee? Ist sie eher die Lösung eines Problems oder ist es eine Erscheinung? Kommt sie spontan, oder ist sie eher forciert? Ist sie das Ergebnis von rigoroser Planung oder vielmehr der eigenen Intuition? Wir fragten einige angesehene Akteure, die das zeitgenössische Grafikdesign vorantreiben, welche Ansätze sie für die Ideenfindung gewählt haben, welche Rolle die Forschung bei diesem Unterfangen spielt und, ganz einfach, was eine gute Idee am Ende ausmacht.
Bei Designern ist die Balance zwischen Arbeit und Leben immer ein Gesprächsthema. Im Vergleich zu einem Buchhalter oder Datenanalyst hat Design einen viel persönlicheren Charakter und lebt von individueller Beteiligung an der kreativen Praxis. Deshalb ist es wohl viel schwieriger, den Inhalt der eigenen Arbeit von der Freizeit oder auch von den eigenen Gedanken nach der Arbeit zu trennen. Mirella Arapian vom Melbourner Designstudio Vertigo glaubt, dass für gute Ideen die Unterscheidung zwischen Selbstachtsamkeit und Arbeit absolut notwendig ist. Dazu gehört eine rigorose Routine mit „acht Stunden Schlaf, Bewegung, Meditation, Vollwertkost und Dankbarkeit“. „Erst nach diesen täglichen Aktivitäten fühle ich mich glücklicher, energiegeladener und weiß, dass ich einen produktiven Tag haben werde“, sagt Arapian überzeugt. Dies scheint auf einen fast organischen und ätherischen Prozess des kreativen Denkens hinzudeuten. Mitch Paone, ursprünglich aus NYC und heute bei der in Genf ansässigen Designagentur DIA, erklärt jedoch, dass der kreative Prozess bei der Ideenfindung genauso gestaltet ist wie das Design selbst. „Der kreative Prozess, das Projektmanagement und die Atmosphäre in unserem Atelier wurden fein aufeinander abgestimmt, um optimale Arbeitsbedingungen zu schaffen, was unserer Meinung nach zu einer besseren Arbeit führt“, erinnert er sich und drückt damit auch die Bedeutung der körperlichen Gesundheit aus. „Acht Stunden Schlaf, eine konsequente Routine, Achtsamkeit, gesunde Ernährung, nicht (zu viel) feiern – all das sind Möglichkeiten, sich auf den Moment vorzubereiten, den man ‚schaffen‘ muss“, sagt Paone und räumt ein, dass es ein Luxus ist, aber etwas, das einem wirklich einen Vorsprung verschaffen kann.
Human Resources' visual identity and packaging for Obadiah Coffee
Eine strenge Routine hat Kurt Green vom Glasgower Designstudio Human Resources gelehrt, „in der Arbeit und auch sonst im Leben zielorientierter zu sein“. Die Routine mildert Ängste ganz allgemein, aber auch die Fallen zu vielen Nachdenkens, in die man oft geraten kann. „Mein Tagesablauf ist rigoros“, verrät er. „Ich gehe um 21 Uhr ins Bett, stehe um 4:30 Uhr auf, weil ich ohne richtigen Tiefschlaf komplett nutzlos bin, und arbeite stets mehrere Stunden, bevor die Pflichten als Vater und Hundehalter um etwa 7 Uhr morgens beginnen.“ Nachdem er die in seinem Kopf herumschwirrenden Aufgaben geklärt hat, geht Kurt Green dann mit einem klareren Verstand in den Tag. „Während des morgendlichen strammen Gehens mit dem Buggy (aber ohne Kopfhörer) bekomme ich meinen Kopf frei, kann über meine Design-Herausforderungen nachdenken und versuchen, Ideen für anstehende Aufträge zu bekommen.“
Mit einem ähnlichen Anspruch, ja sogar Enthusiasmus, für die Selbstorganisation stimmt die Pariser Grafik- und Typografie-Designerin Margot Lévêque der Idee zu: „Absolut richtig! Für mich ist Organisation der Schlüssel zum Erfolg – mit Beharrlichkeit“, wie sie hinzufügt. Da Margot Lévêque sich ohne eine Aufgabenliste nicht auf die Arbeit konzentrieren kann, plant sie alles, von Jahresplänen über monatliche Ziele bis hin zu täglichen Aufgaben. „Ich behaupte nicht, dass es mir gelingt, all das, was ich morgens aufschreibe, zu schaffen“, erklärt sie, stellt aber fest, dass die Liste alle wichtigen Ziele widerspiegelt. „Allein die Idee, alle Aufgaben niederzuschreiben, sie aufzulisten und zu visualisieren, motiviert mich wirklich zu arbeiten.“
Für Leute wie Tom Finn und Kristoffer Soelling vom Londoner Designstudio Regular Practice ist eine geplante Struktur notwendig: „Je mehr Projekte und Leute man hat, desto notwendiger ist diese Struktur“, meinen sie. Dies gilt insbesondere, wenn man die individuellen Persönlichkeiten der Teammitglieder nutzen möchte und erkennt, dass man dabei vor allem, „Arbeitsstile sehen und sie auf die beste Art und Weise kultivieren muss“.
Sometimes Always’ visual identity for publishing office Tropics
Die Ansicht von Gabriel Finotti vom Designstudio Sometimes Always aus São Paulo und Berlin, ist etwas anders. Er erinnert sich: „Ich habe darüber nie so nachgedacht, um ehrlich zu sein… Ich bin ein sehr organisierter Mensch, und mein Umfeld reflektiert definitiv meine Arbeit. Vermutlich rate ich sehr viel mehr bei den pragmatischen Dingen als beim Ersinnen guter Ideen.“ Ganz ähnlich erklärt Benjamin Lee vom Londoner Designstudio Accept & Proceed, dass er noch nie eine gegenseitige Abhängigkeit zwischen diesen beiden Elementen empfunden hat. „Ich habe eigentlich nie eine Korrelation bemerkt zwischen der Art und Weise, wie ich meinen Raum organisiere, und den Ideen, die ich bekomme.“ Er fügt jedoch hinzu, dass seine Gedanken „sich abends freier bewegen können, wenn es weniger Ablenkungen gibt… und Pflanzen helfen auch.“
Für Finotti gibt es eine weniger unmittelbare emotionale Reaktion bezüglich der Organisation, wenn man seine Arbeitszeiten als Beispiel nimmt: „Ich arbeite fünf Tage in der Woche, acht Stunden am Tag. Ich fange um 9:30 Uhr an und höre gegen 18.30 Uhr auf, genau wie es ein Angestellter tun würde [...], aber ich tue das, weil ich denke, dass die Arbeit nur ein Teil meines Lebens ist und nicht meine ganze Zeit in Anspruch nehmen sollte.“ Finotti nimmt ungern Arbeit mit nach Hause, und spricht nach Feierabend selten über die Arbeit, damit er sich in der Freizeit davon lösen kann. „Ich glaube nicht, dass wir Grafikdesigner Künstler sind“, erklärt er. „Ich betrachte meinen Beruf wie andere Leute auch: Ich kenne kaum Krankenschwestern, Buchhalter oder Maurer, die über ihre Arbeit sprechen, also verstehe ich nicht, warum ‚Kreative‘ das gerne tun.“ Für Finotti gibt es einen eher funktionalen Zweck für diese Verhaltensweisen, und nicht die Suche nach der richtigen Denkweise, damit „gute Ideen“ fließen können. Ebenso hält er sich bei der Arbeit nicht an einen Zeitplan, sondern will vielmehr sich überschneidende Projekte vermeiden.
Dennoch könnte man argumentieren, dass eine solche Vorgehensweise zu besseren Ideen führen kann, weil man in einer gelasseneren, komfortableren und entspannteren Umgebung arbeitet. „Ich denke, am Ende trägt all dies zu einer gesünderen und kontrollierteren Umgebung bei“, so Finotti, „wo ich alle Schritte des kreativen Prozesses besser verfolgen kann, aber das hat nicht unbedingt etwas mit guten Ideen zu tun.“
In der Designausbildung gilt Recherche allgemein als wichtiger Teil des Designprozesses, sei es ästhetisch oder konzeptuell. Wie wichtig ist aber Recherche für das Ausbrüten von Ideen? Kurz und bündig meint Mirella Arapian: „Etwas.“ Sie findet, dass der Erfolg von Recherche begrenzt ist und erklärt: „Ich kann über ein Thema genau so viel lernen, wie ich aus unabhängigen Erkenntnissen, Strategiesitzungen und Kundengesprächen lernen kann – aber Recherche stellt nur den Anfang einer guten Idee dar.“
DIA’s kinetic identity system for Squarespace
In dieser Denkweise steht Recherche am Anfang von Ideen. Sie ist zwar nie deren Eigentümer, aber elementar: Sie ist Teil der Idee, aber nie die Idee selbst. Mitch Paone stimmt zu und sagt: „Ohne Strategie und Recherche hat man keine Grundlage, auf der man arbeiten kann, so dass am Ende keine wirkliche ‚Idee‘ erzeugt werden kann.“ Das Konzept hinter jedem Projekt, ob konzeptionell oder kommerziell, visuell oder spekulativ, sollte „zutiefst von seinem Inhalt und seiner Strategie geprägt sein“, dann wird es durch dessen visuelle Umsetzung immer eine „gute Idee“ ergeben: „Es wird dann noch besser, wenn es geschmackvoll und handwerklich einwandfrei ausgeführt wird“, fügt er hinzu.
Für Margot Lévêque ist Rückblick ebenso wichtig wie Recherche – sie nimmt sich die Zeit, um über ihre Arbeit, Gedanken und Entwürfe zu reflektieren. „Bei einem neuen Projekt für einen Kunden vereinbaren wir zuerst einen Termin, damit ich seine Anfrage und sein Universum verstehe“, erklärt sie. „Oft schicken sie mir Moodboards oder Empfehlungen, und dann tue ich gar nichts.“ In völliger Übereinstimmung erklären Finn und Soelling, wie wichtig es ist, sich Zeit zum Nachdenken zu lassen: „Wenn man die Dinge schlecht plant und nur ein kleines Zeitfenster für die kreative Arbeit lässt, kann der schnell nahende Abgabetermin die Fähigkeit, die Dinge in ihrer Gesamtheit zu durchdenken oder eine Idee organisch zu entwickeln, wirklich einschränken.“
Dennoch „sind Recherche und Positionierung entscheidend, um eine angemessene Antwort für einen Kunden zu finden“, wie uns Regular Practice erklärt. „Wir müssen mehrere Schritte durchlaufen, um die Wünsche, Parameter, Randbedingungen, Konkurrenten und das Publikum zu verstehen, damit wir am Ende die Gesamtumgebung verstehen, für die wir etwas entwerfen“, erklären sie. Diese Grundlage an Recherche und Überlegungen führt zum Verständnis dessen, was die geeignete Strategie für das weitere Vorgehen sein muss: „Wir sitzen um den Tisch herum, holen Bücher aus dem Regal, teilen uns Hinweise über gemeinsame Slack-Kanäle, zeichnen an Tafeln und sprechen darüber, bis wir von der Idee überzeugt sind.“
Accept & Proceed’s D&AD award-winning visual identity for A.W.O.
Ohne sich selbst unter Druck zu setzen, wartet Margot Lévêque auf Ideen, anstatt sie zu erzwingen, und verlässt sich dabei auf ihre eigene Reflektion des Kundentelefonats, des Auftrags und der Recherche. „Ich sehe es eher als einen Austausch und eine vertrauensvolle Beziehung, und ich vermeide Instagram und andere soziale Netzwerke so weit wie möglich, denn das ist die schlimmste Falle!“ Der Gedanke, eine von Instagram inspirierte Arbeit führe zu etwas Unaufrichtigem, Vergänglichem und Nichtkreativem, stammt von jemand anderem. Meistens sind die besten Ideen während der Produktion ungewöhnlich, wie z. B. die von Accept & Proceed entwickelte Identitätsgestaltung für AWO, welche die Ästhetik und die Konzepte der konkreten Poesie für die Kanzlei für digitale Rechte nutzt. Diese beiden Welten scheinen so unterschiedlich zu sein, doch das Ergebnis ist eine der originellsten Unternehmensidentitäten der letzten Jahre, fest verwurzelt in Konzept und Recherche, und hat zu einer schönen, durchdachten und funktionalen Marke geführt.
Regular Practice’s visual identity for artisanal soap maker ORRIS
Gute Ideen sind oft auch spontan und werden verbessert, meint Regular Practice im Rückblick auf eine Arbeit vor Ort in Krabbesholm Højskole, wo sie eine Lichtinstallation montierten. „Wir trafen vor Ort aktiv Entscheidungen, anstatt mit einem starren Plan zu kommen“, erklärt er. „In diesem Fall hatten wir uns auch Flexibilität vorgenommen, weil wir dachten, dass sich vor Ort unsere Einstellung zum Entwurf ändern könnte.“ Für Regular Practice war das nicht das erste Mal, dass eine erste Idee während der Produktion angepasst wurde. „Es fühlt sich sehr einprägsam an, weil man Entscheidungen mit echter Bedeutung trifft“, erinnern sich Soelling und Finn. Es versetzt sie in die Situation, während des gesamten Prozesses mit allen verfügbaren Informationen konfrontiert zu werden. Dies „beeinflusst das Ergebnis maßgeblich“, kommentiert Regular Practice. Dabei verstehen sie jedoch auch, dass „diese Einfälle nur zufällig das Sahnehäubchen sind“ und lächeln darüber, dass „diesen Ideen offensichtlich Hunderte anderer vorausgegangen sind.“
Es spricht einiges dafür, dass die Kultur des Sich-Aufreibens ungesund ist und die Menschen ermutigt, viel zu lange und zu spät zu arbeiten, um sich zu „beweisen“, insbesondere für jüngere Angehörige der Kreativbranche. Sie arbeiten in einer unversöhnlichen und ausbeuterischen Umgebung, weil ihnen gesagt wird, dass sie das tun müssen, um die Besten zu sein und die beste Arbeit zu schaffen. Diese Haltung in der Branche muss korrigiert werden, um auch Platz für Mitgefühl, Verständnis und eine Trennung von Arbeit und Leben zu schaffen. Das heißt jedoch nicht, dass man die harte Arbeit zugunsten von Nichtstun aufgibt – weit gefehlt.
Vertigo’s visual identity for Womentor, which they also founded
Für Kreativ-Schaffende wie Arapian sind die Tage oft mit harter Arbeit und langen Arbeitszeiten verbunden. Sie stellt aber unabhängig davon fest, dass ihr die besten Ideen selten am Schreibtisch kommen. Sie erzählt uns, dass „es auf meine Lebenserfahrung, meine Neugier und mein Interesse an Dingen außerhalb des Designs ankommt“, und verrät, dass sie sich derzeit sehr für archäologische Kunst interessiert, aber auch einen Schwerpunkt auf kritisches Denken, Intuition und ihre eigenen persönlichen Werte setzt.
Im Fall von Mirella Arapian sind gute Ideen aus ihren eigenen Träumen entstanden. Sie haben zu Projektnamen für armenische Straßen aus Kopfsteinpflaster geführt und am Ende das Musterdesign eines Schriftsatzes beeinflusst, der sie regelrecht verblüfft hat, genauso wie Paone aus einer Kritzelei in einem Toilettenhäuschen zu einem Logo inspiriert wurde. „Die Suche nach Anknüpfungspunkten an unerwarteten Orten garantiert fast immer überraschende Ideen“, sagt Mitch Paone. „Es ist ganz einfach: Je vielfältiger die gelernten Themen und erworbenen Fähigkeiten sind, desto interessantere Verbindungen kann man herstellen. Voilà, mehr Ideen!“ Das Eintauchen in die Recherche und die Iterationen sind „das Äquivalent zur Bildschirmaufzeichnung der eigenen Kreativität bei der Arbeit, wobei man immer daran denken sollte, diese auch abzuspeichern.“
„Es ist schwierig für uns, einen Ort oder eine Situation überhaupt als einen ungewöhnlichen Umstand zu charakterisieren, in dem wir eine Idee haben“, stellen Finn und Soelling fest und stimmen darin überein, dass sich Ideen von überall her manifestieren können: von Supermärkten und Duschen bis hin zu Spaziergängen im Park oder Stress-Essen. Wichtig ist jedoch, dass sie einem meist kommen, wenn „man an gar nichts Bestimmtes denkt.“ Diese Gedanken werden auch nach dem Säen der Saat noch weiterentwickelt, so Finn und Soelling. „Diese Ideen müssen natürlich noch ausgearbeitet und in Form gebracht werden, damit sie für andere Menschen, insbesondere Kunden, tatsächlich Sinn ergeben.“
Etwas komplementär dazu ist Kurt Greens Ansicht zu Recherche. Er stellt fest, dass er oft an seinen ersten Reaktionen hängen bleibt, obwohl er es liebt, für einen neuen Auftrag und einen neuen Kunden vollständig in die Recherche einzutauchen. „Ich reagiere fast immer sofort mit Herz und Bauchgefühl auf Projekte“, erklärt er. Das erlebte „Gefühl“ muss dann gerechtfertigt werden, indem man seine eigene Ansicht von außen bestätigen lässt. „Ob richtig oder falsch, ich versuche, Konzepte in meinem Kopf zu visualisieren und diese dann auf einen Kundenauftrag anzuwenden“, meint Green. Damit wirft er einen interessanten Punkt auf: unsere eigene Voreingenommenheit gegenüber der Recherche. Er stellt die Frage, ob wir durch die Recherche in Richtung ‚einer guten Idee‘ nicht einfach versuchen, unsere Fähigkeiten mit der Vernunft zu erklären.
Green lässt sich auch außerhalb des Arbeitsumfelds inspirieren. „Vor COVID hatte ich meine guten Ideen häufig im Fitnessstudio, und jetzt mit COVID eher beim Staubsaugen mit einem Kind im Arm“, meint er. „Wenn der Gedanke in einer unkonventionellen Umgebung aufkommt, ist es normalerweise sehr unpraktisch, Stift und Papier zu finden oder die Notizen-App auf dem Telefon zu öffnen, um den Gedanken schnell niederzuschreiben“, fügt er hinzu. „Aber der Versuch, diese Notizen am nächsten Tag zu entziffern, ist noch einmal ein ganz anderes Thema.“
Finotti erklärt, wie durch die Projekte der letzten Jahre bei Sometimes Always, in erster Linie Aufträge zu Unternehmensidentitäten, die Recherche zu einem enorm wichtigen Teil ihrer Praxis und zum Inbegriff einer „guten Idee“ geworden ist: „Eine gute Idee bedeutet, die Essenz des Projekts zu finden und in gewisser Weise ein zu lösendes Problem zu finden, auch wenn es keines gibt“, erklärt er. Dies bringt in der Regel eine Menge an Recherche über die Geschichte des Kunden mit sich. Man versucht, den Markt, in dem er engagiert ist, seine Dienstleistungen und deren Zusammenhang mit seiner Arbeit zu verstehen. „Es bedeutet auch, sich auf das Briefing, das Konzept, den Namen und mehr einzulassen. Im Grunde genommen suchen wir dabei nach einem Funken, nach einer Kleinigkeit, die diese ‚gute Idee‘ auslöst.“ Mitch Paone ergänzt, dass die Kunden nur selten wissen oder verstehen, ob ein Entwurf „formal richtig oder falsch“ ist – sie verstehen jedoch sehr gut, ob er ihrem Unternehmen nützt und ob er dazu leicht umzusetzen ist. „Wenn man nicht gut informiert ist und sich in der Branche des Kunden nicht auskennt, wird es schwieriger, die Arbeit zu präsentieren und zu besprechen.“ Daher ist es fast wichtiger, die Gründe zu erklären als die Idee selbst.
Wie es der strengen Praxis von Accept & Proceed entspricht, erklärt Lee, wie wichtig Recherche ist. „Ein Designer sollte immer die Welt um sich herum erforschen und in Frage stellen“, verkündet er und weist darauf hin, dass die „Fähigkeit zur Entwicklung neuen Ideen" umso größer ist, je größer das Hintergrundwissen ist. Gerade in einer Welt, in der die Grenzen des Denkens ständig infrage gestellt werden, ist es wichtiger denn je, außerhalb der gängigen Normen zu denken. Die Qualität einer Idee ist aufgrund der Natur kommerzieller Designaufträge, die dem Kunden dienen sollen, letztlich eine strittige Frage. Dennoch kann die Qualität einer Idee nach verbreiteter Ansicht durchaus auf den Auftrag selbst hinauslaufen. „Es hilft auch, wenn ein Auftrag eine Herausforderung darstellt“, erläutert Mirella Arapian.
Margot Lévêque’s serif Romie featured in Shoplifters Issue 8
Fazit: Der Begriff einer guten Idee ist völlig unklar. Für Arapian ist eine gute Idee sowohl das Ergebnis als auch der Höhepunkt von Kreativität, Forschung, beruflicher Praxis und persönlichen Erfahrungen sowie von „Neugier, einem offenen Geist und einem offenen Herz“. Dies wird in ihren Augen durch die eigenen Fähigkeiten und die Fähigkeit zur Selbstkritik erreicht, durch die Bereitschaft, objektiv gegenüber den eigenen Gedanken zu handeln, sowie durch weniger Ego und mehr Demut, wobei die eigene schöpferische Haltung für die Qualität der Ideen steht. „Es dreht sich alles um Randbedingungen“, analysiert Mitch Paone und stellt fest, dass „gute Ideen“ das Ergebnis von harter Arbeit und Lebenserfahrung sind. Er glaubt nicht, dass der eine Mensch von Natur aus kreativer ist als der andere, sondern erinnert vielmehr daran, dass die eigene Kreativität oft durch „Ego, Angst, Zweifel und Vergleichsdenken“ blockiert wird. Er erklärt, dass gute Ideen entstehen, wenn man einen „offenen und regen Geist“ hat, der hungrig ist und mehr lernen will – denn genau das lässt „Kreativität gedeihen“.
Dementsprechend kommentiert Finotti, dass „harte Arbeit, die Offenheit für neue Ideen und die eigene Intuition“ die richtigen Zutaten für gute Ideen sind. Er glaubt, dass tatsächlich jeder kreativ ist, mit dem Potenzial für großartige Ideen – leider sind jedoch die meisten häufig abgelenkt und uninteressiert an ihren eigenen Ideen. „Sobald man Grafikdesigner ist, neigt man dazu, diese Ideen mehr zu schätzen, so dass man ihnen gegenüber aufmerksamer wird“, erklärt er. „Man öffnet sich mehr, man ist bewusster auf der Suche nach ihnen, auch wenn sie manchmal aus unserem Unterbewusstsein kommen.“ Vielleicht ist es ja deshalb schwierig, unsere eigenen Ideen zu finden, zu verstehen und zu interpretieren. Finotti weist aber darauf hin, dass „man bereit sein muss, tief in verborgene Teile von sich selbst oder jemand anderem einzudringen, und das ist sehr anspruchsvoll.“
Kurt Green meint, gute Ideen kommen sowohl aus einer angeborenen als auch aus einer erlernten Perspektive – sie sind also sowohl das Ergebnis natürlicher Kreativität als auch der für ein Projekt aufgewendeten Zeit. Er sieht seine typische Reise in einem „natürlichen kreativen Ausbruch, gefolgt von harter Arbeit durch Iterationen, Tests und Feinabstimmung bis zum Exzess (gefolgt von der großen Freude, am Ende etwas zu haben, das prima funktioniert).“ Er betont jedoch, dass auch durch harte Arbeit niemals die Frustration beseitigt wird, die er verspürt, wenn er seine ursprüngliche kreative Vision nicht gut umsetzen kann. Mitch Paone erklärt andererseits, dass eine ‚gute Idee‘ meist aufgrund ihrer Einfachheit gut ist, und deutet an, dass meist etwas „einfaches, direktes und unerwartetes“ die „gute Idee“ ausmacht.
Margot Lévêque bestreitet diese Vorstellungen und sagt uns: „Ich glaube nicht daran, von Natur aus kreativ‘ zu sein, und ich glaube nicht, dass man ‚hart arbeiten‘ muss, um Großes hervorzubringen“. Sie lehnt diese beiden Konzepte ab. „Ich gebe zu, dass mich die Vorstellung einer guten Idee stört“, weil sie der Meinung ist, dass eine gute Idee für den einen Menschen vielleicht nicht dasselbe ist wie für einen anderen. „Besonders in der Kreativbranche“, erklärt sie, „werden wir von vielen Inhalten mit unterschiedlichen Stilen überwältigt. Wer hat also das Recht zu bestimmen, ob es eine gute Idee ist?“ Stattdessen sieht Lévêque die Grundlage der Kreativität in „Neid und Neugier“ und stellt fest: „Wenn man das hat, will man ganz automatisch arbeiten.“
Darüber hinaus meint sie, dass man umso besser arbeiten kann, desto mehr Zeit man an etwas arbeitet. Wenn man sich mit etwas länger beschäftigt, wird man ein besserer Designer, und ‚gute Ideen‘ kommen einem immer natürlicher in den Sinn. „Ich habe gemerkt, dass ein Projekt umso besser wird, je länger ich daran arbeite, aber ich finde nicht, dass ich hart arbeite“, erklärt sie. Sie arbeitet nur, wenn sie in kreativer Stimmung ist. Regular Practice stimmt damit völlig überein. „Gute Arbeit kommt mit der Praxis: Je mehr man etwas tut, desto besser wird man darin“ – ein Prinzip, an dem sie so eifrig festhalten, dass sie es sogar in den Namen ihrer Design-Agentur übernommen haben. „Daher kommt unser Name“, ergänzt er. Dieses Verständnis treibt den kreativen Prozess in der Agentur an. So erlauben sie sich selbst zu scheitern, zu lernen, zu wachsen und sich weiterzuentwickeln, um beim nächsten Mal noch besser zu sein.
In Übereinstimmung mit der etwas spekulativeren Praxis von Accept & Proceed, bei der die Grenzen zwischen konzeptionellem Design, durchdachter Typografie und Identitätsgestaltung verwischt werden, stellt Lee fest, dass eine gute Idee Probleme löst, und erklärt: „Sie verbindet, sie schafft Bedeutung, sie hilft einem, die Welt auf neue Weise wahrzunehmen.“ Die Rolle des Kunden ist für Regular Practice von zentraler Bedeutung, denn sie sagt uns, dass eine ‚gute Idee‘ einerseits das Kundenbedürfnis erfüllt, zugleich aber auch uns herausfordert.“ Darüber hinaus ist sie idealerweise „etwas, das beim Publikum Anklang findet, zugleich aber Konventionen in Frage stellt, langlebig ist, aber zugleich eine zeitgenössische Frische aufweist.“
Mirella Arapian spricht etwas an, das einen roten Faden zu vielen Argumenten bezüglich der Kreativität zusammenfasst, nämlich den der Aufrichtigkeit. Sie sagt uns, dass für eine gute Idee „ein guter Sinn für Humor“ notwendig ist, weil am Ende „nichts zu ernst genommen werden sollte“. Wenn man die Dinge zu inbrünstig angeht, bekommt man möglicherweise eine düstere, belastende Professionalität im eigenen Kopf, dort wo eigentlich Kreativität sein sollte. Sie folgt damit Margot Lévêques Überzeugung, dass das Entscheidende die eigene Zufriedenheit ist mit dem, was wir machen. „Das Wichtigste ist, dass wir als Kreativschaffende zufrieden sind mit dem, was wir produzieren, und dass der Kunde zufrieden ist mit dem, was wir geschaffen haben“, meint Arapian und fügt hinzu: „Für mich heißt das, eine gute Idee zu haben, egal was die Leute denken!“ Mit diesem Ziel können wir das Design vielleicht in eine neue und aufregende Richtung lenken, indem wir das erforderliche Minimum an Ernsthaftigkeit beibehalten und uns von dem befreien, was „erwartet“ wird – voller guter Ideen, welche Ernsthaftigkeit durch Aufrichtigkeit ersetzen.
Alternativ können wir zur Frage, was eine gute Idee ausmacht, am Ende auch die Antwort von Finotti auswählen, nämlich: „Ich habe keine Ahnung.“
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